Schloss aus Wolken

2007

Sie nannten ihn Bird, weil er fliegen wollte. Einfach nur Bird. Als hätte er keinen richtigen Namen, im Gegensatz zu allen anderen im Dorf. Bird war ein kleiner Junge mit einem großen Traum. Da er seine Eltern schon früh bei einem Brand verloren hatte, lebte er bei seinem ledigen Onkel, der einen Laden für Werkzeuge betrieb und als verschrobener, Menschen hassender Kauz galt. Vielleicht war er wirklich verschroben, mit seiner zerbrochenen Brille auf der Nase, seinem verwuschelten Haarschopf, seinem mürrischen Gesicht, das den eigentlich recht jungen Mann um Jahre älter wirken ließ und seiner eher schweigsamen und mehr oder weniger gleichgültigen Art, aber Menschenhasser war er bestimmt keiner. Wäre er einer, hätte er den kleinen Bird doch nicht nach dem Tod seines Bruders und dessen Frau ohne ein Wort der Widerrede selbstlos bei sich aufgenommen, als wäre er sein eigener Sohn. Bird wusste das und versuchte immer wieder, es all den anderen Leuten im Dorf zu erklären. Dennoch änderte sich nichts an dem schlechten Ruf seines Onkels und so galt dieser weiterhin als verschrobener Menschenhasser, der seit Jahren nicht mehr zum Friseur ging. Nur die wenigsten kamen gut mit ihm aus, doch das hatte den Onkel nie gestört. So war das eben.

    Birds Vater war ein großer Erfinder gewesen, der dem Dorf mit seinen praktischen Erfindungen so einiges an Arbeit erleichtern konnte. Wegen seiner tollen Erfindungen war Birds Vater bei allen sehr beliebt und auch seine Mutter war eine angesehene und bei allen geschätzte Frau gewesen und es hätte einige Menschen gegeben, die sich gerne um ihren Sprössling gekümmert hätten, der ebenfalls allseits beliebt war und von jedem gemocht wurde. Doch sein verschrobener Onkel hatte darauf bestanden, den kleinen Jungen bei sich aufzunehmen. Er meinte, er schulde es seinem Bruder und dem Jungen würde es bei ihm an nichts fehlen, womit er Recht hatte.
    Der kleine Junge hatte scheinbar den Erfindungsgeist und das handwerkliche Geschick, das bei ihm in der Familie lag, geerbt, denn seit sich die Dorfleute erinnern konnten, war Bird tagtäglich damit beschäftigt, neue Kreationen an metallenen Haufen, die über irgendwelche nützlichen, oder manchmal auch unnützen Funktionen verfügten, oder andere Erfindungen fertig zu stellen und sie anschließend allen mit vor Stolz geschwellter Brust zu präsentieren. Er wolle später einmal ein genauso großer und berühmter Erfinder werden, wie sein Vater, erzählte der kleine Bird immer und seine Augen glitzerten dabei wie die weißen Sterne am klaren Nachthimmel, die stets die dunkle Tageszeit erhellten, sobald der rote Feuerball sich zur Ruhe gelegt hatte. Doch dies war nicht Birds eigentlicher, großer Traum.
    Sein größter Traum war es, eines Tages eine richtige Flugmaschine zu bauen, mit der er vom Boden abheben und in den Himmel steigen konnte um die Wolken anzufassen. Bird war ein kluger Junge, doch er war auch ein Träumer. Und so glaubte er niemandem, nicht einmal seinem verschrobenen Onkel, dass man Wolken doch gar nicht anfassen konnte. Für ihn waren die Wolken keine bloße Ansammlungen von Wasserdampfs, wie sein Onkel, der zwar verschroben, aber auch sehr gebildet war ihm erklärte, und wie er es auch in einem dicken, schlauen Buch einmal nachgelesen hatte. Nein, für ihn waren die Wolken weiße, weiche, flauschige Wattebausche, die am Himmel umherwanderten und weinten, wenn sie traurig waren, genau wie die Menschen. Niemand, wirklich niemand vermochte es, ihm diese Hirngespinste auszureden und so träumte er weiterhin davon, eines Tages ein Stück weiche Wolke in den eigenen Händen zu halten und somit allen zu beweisen, dass er Recht hatte.

    “Weißt du, Schwester”, meinte Bird einmal voller Überzeugung zu dem jungen blinden Mädchen aus dem Nachbarhaus, “Wenn ich meine Flugmaschine gebaut habe und in den Himmel fliege, dann bringe ich dir als erstes ein Stück Wolke mit, damit du es selbst fühlen kannst.”    
    Das blinde Mädchen war gar nicht mit Bird verwandt, doch war sie für den kleinen Jungen trotzdem so etwas wie eine große Schwester, der er sich anvertraute und mit der er über alles reden konnte, die er vergötterte. Das blinde Mädchen war eine sehr einfühlsame Person, die gerne die große Schwester des Jungen mimte, um ihn glücklich zu machen und auch sie war glücklich, wenn sie sich um den Kleinen kümmern konnte. Er gab ihr das Gefühl, eine Familie zu haben und gab ihrem Leben, welches ihr auf Grund der Tatsache, dass sie wegen ihrer Blindheit beinahe keine nützliche Arbeit zu leisten im Stande war, einen Sinn. Doch auch, wenn das blinde Mädchen für Bird alles bedeutete, glaubte er auch ihr nicht, dass Wolken keineswegs aus Watte bestanden.    
    “Woher willst du das wissen? Du kannst sie doch nicht einmal sehen! Was, wenn dich die anderen alle anlügen?”, hatte Bird sie einmal beleidigt gefragt, als sie seine Theorie in Frage stellte, anschließend war er aufgesprungen und wütend davongelaufen.
    Es stimmte, das blinde Mädchen hatte noch nie in ihrem Leben eine Wolke gesehen. Doch sie wusste, was Wolken waren, man hatte es ihr erklärt, als sie als kleines Mädchen einmal danach gefragt hatte. Mit Watte hatte diese Erklärung jedoch nicht das Geringste gemeinsam gehabt. Doch was, wenn sie wirklich angelogen worden war? Bestand nicht immerhin die Möglichkeit, dass der kleine Bird mit seiner Behauptung richtig lag? Es war immerhin eine wirklich schöne Behauptung, die man gerne glauben würde. Das blinde Mädchen kannte es, angelogen zu werden. Das passierte nicht selten. Da die Menschen wussten, dass sie nicht sehen konnte, fiel es ihnen leichter, nicht immer die Wahrheit zu sagen. Sie dachten, wenn man ihnen nicht ansehen konnte, dass sie logen, würden sie auch nicht auffliegen. Was sie nicht wussten, war jedoch, dass das blinde Mädchen sehr wohl im Stande dazu war, eine Lüge zu erkennen, denn eine Lüge klang nach einer Lüge, auch wenn sie sie nicht sehen konnte. Meistens. Ja, meistens, das war das entscheidende Wort. Denn, so traurig es war, auf dieser Welt gab es auch Menschen, die sehr begabte Lügner waren und denen man eine Lüge durchaus auch als Wahrheit abkaufen konnte. Und gegen solche perfekten, als Wahrheiten getarnte Lügen war selbst das blinde Mädchen machtlos.
    Bird lies nicht locker, an seiner Überzeugung festzuhalten, nie. Er glaubte weiterhin an seine weiße, weiche, flauschige Wattentheorie und beharrte stur darauf.
    “Wenn ich dir verspreche, dass ich dir beweisen werde, dass Wolken aus weißer Watte bestehen, versprichst du mir dann auch etwas?”, fragte Bird mit ernster Stimme eines regnerischen Nachmittages, als er wieder einmal bei dem blinden Mädchen zu Besuch war und die beiden gerade auf der überdachten Terrasse die Birnen, die der Junge - mit besten Grüßen von seinem verschrobenen Onkel - mitgebracht hatte, verspeisten.
    “Was soll ich dir denn versprechen?”, fragte das blinde Mädchen und lächelte den Kleinen liebevoll an.
    “Versprich mir, dass du dann mit mir in dem Wolkenschloss leben wirst, das ich für dich bauen werde! Nur wir beide und niemand sonst! Dort werde ich dir das Glück schenken!”, meinte der kleine Junge aufgeregt und griff nach der Hand des blinden Mädchens um ihr das Versprechen abzunehmen.
    “Einverstanden. Ich verspreche es dir!”, meinte das blinde Mädchen nach einer kürzeren Pause und drückte fest Birds kleine Hand, die vor Aufregung zitterte.
    Anschließend lachte sie herzhaft und konnte sich gar nicht mehr beruhigen. So etwas hatte sie ja noch nie gehört. Sie fühlte sich geschmeichelt und ihr Herz freute sich über diesen lieben Gedanken des kleinen Bird, doch wenn sie daran dachte, wie die anderen Leute ihr die Wolken erklärt hatten, musste sie sich zusammenreißen, damit sie nicht zu weinen anfing. Was, wenn der Kleine nur bitterlich enttäuscht werden würde? Was, wenn die anderen Erwachsenen doch alle Recht hatten und es die Wattewolken tatsächlich nicht gab? Sie müsste ihr Versprechen brechen, da Bird seines nicht einhalten könnte. Doch das konnte und wollte sie dem kleinen Jungen nicht sagen. Nicht jetzt. Wie traurig würde er darüber sein... Um zumindest zu verhindern, dass Bird schon jetzt bittere Tränen vergoss, musste sie ihm seinen Traum lassen und zur Lügnerin werden. Der Kleine muss seine Erfahrungen selbst machen, lass ihn träumen, er wird schon früh genug merken, dass die Wahrheit anders aussieht,  hatte Birds verschrobener Onkel, der es mittlerweile aufgegeben hatte, ihm die Wolken erklären zu wollen, bei seinem letzten Besuch zu dem blinden Mädchen gesagt. Er war Birds Erziehungsberechtigter, seine Entscheidungen musste man respektieren. Außerdem würde sie sich hüten, Kindheitsträume zu zerstören.

    In der nächsten Zeit arbeitete Bird Tag und Nacht an den Entwürfen für seine Flugmaschine. Er zeichnete ausgeklügelte Konstruktionen mit einem stummeligen Bleistift auf braune Papierfetzen, radierte, besserte aus, strich falsche Maßeinheiten durch und zerbrach sich den Kopf über Rechenformeln, mit denen er Spannweite der Tragflügel oder Gewicht des Flugkörpers auszurechnen versuchte. Sein Onkel lies in machen, lies ihn aufbleiben so lange Bird wollte und konnte und trug ihn letztendlich die Treppen nach oben in sein Bett, wenn der kleine Junge abends trotz Licht erschöpft und ausgelaugt über seinen Arbeiten am Schreibtisch eingeschlafen war. Eines musste man Bird lassen: Er war ein überaus kluger und hartnäckiger Junge, besonders für sein Alter. Die anderen Kinder in seinem Alter hatten ganz andere Interessen und dachten sich am liebsten den ganzen Tag lang lustige Spiele aus, liefen streunenden Katzen hinterher um sie zu streicheln oder pflückten Blumen auf den saftigen Wiesen, sie sich rund um das Dorf erstreckten. Bird hingegen verbrachte seine freie Zeit einzig und allein im Haus oder, wenn er seine Pläne in die Tat umsetzte, im Holzschuppen im Garten seines Onkels, wo er mit dessen Werkzeug wie besessen an seiner Flugmaschine herumbastelte. Er schraubte und hämmerte verschiedene Formen von Brettern zusammen, baute die unterschiedlichsten Vorrichtungen, die seine zusammen gezimmerte Holzkiste in die Lüfte erheben sollten und fing wieder von vorne an, wenn ein Flugversuch nach dem anderen wieder und wieder scheiterte.
    So ging es den ganzen Sommer lang und noch darüber hinaus. Eines lauwarmen Herbsttages, als Birds Arbeiten richtig gut voran kamen und es nicht mehr lange dauern konnte, bis er eine flugtaugliche Flugmaschine fertig gestellt hatte, beschloss er, in einer Arbeitspause dem blinden Mädchen wie des Öfteren wieder einmal einen Besuch abzustatten. Er legte sein Werkzeug weg, betrachtete sich stolz sein beinahe komplettes Meisterwerk und freute sich darauf, die Maschine so bald wie möglich auszuprobieren. Er wusste, dass es diesmal klappen würde. Diesmal hatte er alle Fehler behoben, jede wichtige und winzigste Kleinigkeit bedacht und den perfekten Plan erstellt. Er wollte dem blinden Mädchen unbedingt von seinen tollen Fortschritten berichten und ihr sagen, dass er ihr bald das versprochene Stückchen Wolke vom Himmel holen und mit den Plänen für ihr Schloss anfangen würde. Er machte sich auf den Weg zum Nachbarhaus, wobei er sich wegen des prasselnden Regens schützend die Hände über den Kopf hielt, als er vom Gartenschuppen bis zur Haustüre des blinden Mädchens lief. Die Tür war wie immer nur angelehnt, was nur Bird wusste, und so konnte er ungehindert in das Haus eintreten. Er achtete nicht darauf, dass er kleine Wasserpfützen hinter sich herzog, als er mit den Gedanken nur bei dem blinden Mädchen und ihrem bezaubernden Lächeln, das sie ihm gleich schenken würde, den engen Flur entlang rannte und die überdachte Terrasse ansteuerte, die er durch das Wohnzimmer erreichen konnte und auf der das blinde Mädchen sich meistens, sitzend in einem gepolsterten Sessel, befand. Besonders bei Regenwetter. Sie liebte diese angenehme Kühle des Regens und das melodische Geräusch, wenn die kleinen Tropfen auf das Terrassendach prasselten und ihr eigenes Konzert zu geben schienen.
    Wie vermutet fand Bird das blinde Mädchen auch auf der Terrasse vor, doch war sie diesmal nicht allein. Und so sah er sie in den Armen eines anderen Jungen, zum ersten Mal in seinem Leben. Er war viel größer als er, auch größer als das blinde Mädchen und machte den Eindruck, als könne er sie vor allen drohenden Gefahren, die in der großen weiten Welt lauerten, beschützen. Bird wurde furchtbar wütend, als er sah, wie dieser Junge seine Arme um das blinde Mädchen geschlungen hatte und mit welch glücklichem Lächeln er dafür belohnt wurde. Was fiel diesem Kerl eigentlich ein? Das war eine Aufgabe! Es war Birds Aufgabe, das blinde Mädchen zu beschützen, vor den Lügen, die die anderen verbreiteten, vor allem, vor dem sie auch nur im Entferntesten beschützt werden musste und vor Menschen wie diesen Jungen! Und es war seine Aufgabe, das blinde Mädchen glücklich zu machen! So dachte zumindest der kleine Junge mit den von den Holzarbeiten rauen, verletzten Händen und den durchnässten Klamotten, als er wütend schreiend auf den großen Jungen zustürmte und ihn unsanft wegzustoßen versuchte.
    “Was willst du denn, Kleiner?”, fragte dieser lachend und leicht verwundert, als er sich nach Bird umdrehte, “Wieso bist du denn so wütend?”
    “Geh weg von ihr!”, befahl Bird in strengem Tonfall, “Lass sie in Ruhe, ich kümmere mich um sie!” Birds Stimme klang aufgebracht und zitterte leicht.
    “Bird, bist du das? Was hast du denn?”, fragte das blinde Mädchen besorgt, als sie das Zittern in der Stimme des kleinen Jungen vernahm.
    Diesem standen mittlerweile die Tränen in den Augen und er kämpfte dagegen an, nicht plötzlich wie ein kleines Kind loszuweinen und zu schreien. Er wusste selbst nicht, was es genau war, das ihn in diesem Moment so wütend machte. Er wusste nur, dass er wollte, dass dieser Junge augenblicklich verschwand. Wütend holte Bird tief Luft, griff nach den Händen des blinden Mädchens und drückte sie ganz fest. Das blinde Mädchen löste sich etwas aus der Umarmung des großen Jungen, wandte sich dem kleinen Bird zu und hielt seine Hände fest, als hätte sie Angst, er könne plötzlich davonlaufen und nie wieder zurückkommen. Hatte sie ihn verärgert? Wieso regte der Kleine sich so auf?
    “Schick diesen Kerl weg, du brauchst ihn nicht!”, meinte Bird und seine Stimme klang mittlerweile fast schon flehend. “ICH passe auf dich auf! ICH baue dir ein Wolkenschloss und ICH mache dich glücklich! Du brauchst keinen anderen dafür!”
    Der große Junge lachte laut auf und zog das blinde Mädchen wieder zu sich, wobei sich Birds Hände aus ihren lösten. Der kleine Junge starrte die beiden nur ungläubig an, als der große Junge mit den starken Armen ihn mitleidig ansah während er ihn unter Lachtränen fragte, ob er sich etwa Hoffnungen bei dem Mädchen machte- sie gehöre ihm- und ob er noch ganz richtig im Kopf sei, dass er so komisches Zeug über Wolken und Schlösser redete. ER könne sie nicht glücklich machen, dafür wäre er doch viel zu klein! Wie naiv!
    Bird spürte, wie die Wut wieder in ihm hoch kochte. Er würde es diesem aufgeblasenen Jungen schon zeigen! Von wegen dummes Zeug! Von wegen, das blinde Mädchen gehöre diesem Jungen! Von wegen, er wäre viel zu klein und zu naiv, um sie glücklich zu machen!
    “Baut er dir ein Schloss aus Wolken? Ich glaube nicht! Aber ICH mache das! Ich habe meine Flugmaschine bald fertig und dann baue ich dir ein Schloss aus Wolken! Vergiss nicht, was du mir versprochen hast!”, meinte Bird entschlossen zu dem blinden Mädchen und verließ mit eiligen Schritten ihr Haus. Er rannte zurück durch den Garten in den Holzschuppen und machte sofort dort weiter, wo er aufgehört hatte, um sein Werk zu vollenden.
    Das blinde Mädchen fühlte sich schrecklich traurig. Sie hatte Bird doch nicht so aufregen wollen. Sie hätte besser aufpassen sollen. Sie wusste, dass es unvermeidlich gewesen war, ihn zu enttäuschen, doch hätte sie diese Aufgabe lieber den Wolken überlassen, als selbst dafür verantwortlich zu sein. Sie bat den großen Jungen, zu gehen, nicht weiter nachzufragen, wieso, und nicht mehr wiederzukommen. Auch, wenn das Glück für sie so greifbar nahe gewesen war, wäre es dem kleinen Jungen gegenüber nicht fair gewesen. Sie wollte ihm wenigstens das Gefühl geben, als hätte er eine Chance, sie glücklich zu machen, das war sie dem kleinen Bird schuldig, der es doch nur lieb mit ihr meinte.

    Nur wenige Tage später hatte Bird es geschafft. Seine Flugmaschine war fertig und diesmal versprach er sich einen Erfolg. Er hatte die letzten Tage wie verrückt an der Maschine gearbeitet, hatte das Bild des blinden Mädchens in den Armen dieses Jungen nicht aus dem Kopf bekommen und sich voller Entschlossenheit und Tatendrang in die Arbeit gestürzt. Nun würde es sich bezahlt machen und er würde sie glücklich machen können. Er würde ihr ein Schloss aus Wolken bauen und sie beide würden wie versprochen dort drinnen leben. Nur sie beide und niemand sonst. Sie brauchte nur ihn. Ihn allein.
    Nicht nur das blinde Mädchen war gekommen, um sich zumindest anhand der Kommentare und Rufe von Birds Onkel, der seinen Neffen nun endlich fliegen sehen würde, ein Bild von dessen Erfolg oder Misserfolg machen zu können. Auch die anderen Dorfleute waren nahezu vollzählig erschienen, um dem Spektakel beizuwohnen und den Kleinen anzufeuern. Zwar wussten sie genau, dass er am Ende des Tages furchtbar enttäuscht sein würde, doch könnten sie ihn immerhin versuchen, mit Lob bezüglich seiner Flugmaschine wieder aufzubauen.
    Bird hingegen glaubte immer noch fest daran, dass er nun endlich die Wolken anfassen würde. Er war furchtbar aufgeregt bei dem Gedanken und musste sich zusammennehmen, nicht vor Aufregung zu schlottern und somit den Flugversuch zu behindern. Also nahm er allen Mut zusammen und startete den Motor der Flugmaschine. Er drehte sich noch einmal um, sein Onkel lächelte ihm aufmunternd zu und auch das blinde Mädchen, das ihn zwar nicht sehen konnte, aber trotzdem in seine Richtung blickte, trug ein Lächeln auf ihren Lippen. Auch, wenn es eher traurig, als fröhlich aussah, das würde sich schon bald ändern, da war sich Bird vollkommen sicher.
    Nun war es soweit. Er würde seine Erfindung einer harten Prüfung unterziehen und nun würde sich entscheiden, ob er fähig war, das blinde Mädchen glücklich zu machen. Es stand in den Wolken. Der Propeller der Flugmaschine setzte sich in Bewegung. Bird setzte sich seine Fliegerbrille auf, hielt sich am Rand der mit Rollen bestückten Holzkiste, die den Körper der Maschine bildete fest und lief eine Weile daneben her, den ebenen Feldweg entlang, den er als Startbahn benutzte. Der ausgetrocknete Boden auf dem das sich mittlerweile braun verfärbende Gras lag, wirbelte unter seinen Füßen Erde auf und bildete einen kleinen Staubnebel über dem Boden. Als die Flugmaschine genug beschleunigt, Auftrieb unter den hölzernen Tragflügeln hatte und anfing, vom Boden abzuheben, sprang Bird in die hölzerne Kiste. Den Wind um die Ohren blasend und mit den aufmunternden Zurufen der Dorfsleute im Hintergrund lenkte er die Maschine nach oben und stieg langsam aber sicher immer höher und höher in den hellblauen und mit Wolken behängten Himmel hinauf. Sein Herz klopfte wie wild an seine kleine Brust und ihm blieb beinahe der Atem weg, als er sich hoch in den Lüften wieder fand und sich unter ihm eine endlose Landschaft ausbreitete, die in allen Farben zu schillern schien. Die Sonne bestrahlte die Bäume und Felder, sie sich langsam von Grün in Gelb, Orange, Rot und Braun färbten und die letzten grünen Stellen und bunten Blumen auf den Wiesen. Der Fluss, nicht weit vom Dorf glitzerte in tiefstem Blau wie ein Edelstein und die Ähren auf den Getreidefeldern, die kurz vor der Ernte standen wiegten gleichmäßig und sanft im Wind, als tanzten sie alle einen gemeinsamen Tanz. Bird staunte über diese wunderbare Welt, die er das erste Mal von hier oben sehen konnte und ihm kamen fast die Tränen vor Glück. Doch dann fiel ihm seine Aufgabe wieder ein, der Grund, weshalb er überhaupt hier oben war, der Grund, weshalb er sich eine Flugmaschine gebaut hatte und nun hier oben durch die Lüfte flog, als wäre er selbst ein Vogel, der sich auf in den Süden machte. Er wollte nun endlich die Wolken anfassen. Wollte ihnen ein Stück entreißen und es mit zurück auf die Erde nehmen, ein Stück Wattewolke für das blinde Mädchen, ein Stück Schloss, das er in Zukunft planen und erbauen würde, nur für sie und ihn.
    Bird wandte also seinen Blick von der prächtigen Farbenvielfalt zu seinen Füßen und konzentrierte sich wieder aufs Fliegen. Gezielt steuerte er seine Flugmaschine mithilfe eines Steuerknüppels noch weiter nach oben, höher und höher, bis er um sich herum weiße Wolken sehen konnte, bis er sich mitten unter ihnen befand. Die Wolken wirkten tatsächlich, als wären sie aus weißer, weicher, flauschiger Watte. Sie wirkten, als könnte man es sich auf ihnen bequem machen, sich räkeln und herumwälzen, bis man eine angenehme Schlafposition entdeckt hatte und anschließend in ein weißes Wolkenbett gekuschelt und die untergehende Sonne im Blickfeld in die Traumwelt entschwinden. Birds kleines großes Herz klopfte noch heftiger gegen seine Brust als zuvor, als wollte es herausspringen und selbst auf den Wattewolken tanzen. Doch noch hatte er keinen Beweiß für seine Theorie erbracht. Noch hatte er sie nicht angefasst. Mutig und voller Hoffnung nahm der kleine Junge eine Hand vom Steuerknüppel, lehnte sich so weit wie möglich aus der Flugmaschine hinaus, versuchte mit der einen verbliebenen Hand das Gleichgewicht der Maschine zu halten und streckte die andere so weit er konnte nach draußen. Er versuchte so nah wie möglich an eine Wolke zu kommen, streckte seine kleine Hand noch ein kleines Stückchen weiter und fasste nach der Wolke. Fasste ins Leere und musste zusehen, wie sich eine Ansammlung weißen Wasserdampfes in Luft auflöste, genau wie die Wolkenschlösser in seiner kindlichen Fantasie, während ihm Tränen über die Wangen kullerten und sein kleines Herz in tausend blutrot glänzende Stücke zersprang...
    
    Vielleicht hatte er sie damals geliebt und wusste es nur nicht, mit seinem kleinen Kinderherzen. Und eine Liebe, die man nicht als Liebe erkennt, kann nie stark genug sein, um Unmögliches mögliche zu machen - Berge zu versetzen, oder in diesem Fall Ansammlungen von Wasserdampf in Wattewolken zu verwandeln um der geliebten Person ein Schloss daraus bauen zu können. Als Bird dieser Gedanke Jahre später in den Sinn kam, konnte er nur noch den Kopf schütteln und sein damaliges Ich belächeln. Was warst du nur für ein dummes Kind, fragte er sich selbst, widmete sich wieder seiner Arbeit und vergaß den Gedanken so schnell wieder, wie er gekommen war. Bird war, wie er es sich immer vorgenommen hatte, ein berühmter Erfinder geworden, welcher der Welt mit seinen tollen Erfindungen eine Menge Freude bereitete. Er war in ein fremdes Land gezogen, weit weg von dem jungen blinden Mädchen. Ein Land, in dem ihm mehr Mittel zur Verfügung standen und er sich noch mehr tolle Erfindungen ausdenken und Träume erfüllen konnte.     
    Und das junge blinde Mädchen? Das junge blinde Mädchen war in der Zwischenzeit eine Frau geworden, hatte einen Mann kennen gelernt, der sie auf Händen trug, versprach, ihr jeden Wunsch zu erfüllen und sie glücklich zu machen, wenn sie ihn sein restliches Leben lang begleiten würde und der sie über alles liebte. Die beiden hatten geheiratet und wunderschöne Kinder in die Welt gesetzt. Und jedes Mal, wenn es draußen regnete, die Regenwolken nahezu in den Bäumen hingen und man nicht nach draußen spielen gehen konnte, saß die blinde Mutter mit ihren Kindern in den Armen draußen unter einer überdachten Terrasse und erzählte ihnen mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen von Bird, dem unglaublich lieben kleinen Jungen, der ihr einst ein Schloss aus Wolken bauen wollte.


Ende